Carina Lilge-Leutner ist tot. Nach eineinhalb Jahren schwerer Krankheit mit mehreren Operationen, einer Zeit, die geprägt war von einem ständigen Wechsel von Bangen und Hoffnung, hat nun ihr Körper nicht mehr mitgemacht. Bis zuletzt hat sie trotz starker Schmerzen und im Bewusstsein des nahenden Endes tapfer gekämpft und nie geklagt. Sie hat ihre Krankheit nicht aktiv öffentlich gemacht, aber auch nicht verschwiegen. Nun ist sie friedlich im Beisein von Tochter Lisa-Maria für immer eingeschlafen.
In der Öffentlichkeit war sie zuletzt im Rahmen des VCM im April 2017 zu sehen, zu dem sie der Veranstalter anlässlich des 30-jährigen Jubiläums ihres Sieges im Jahr 1987 geladen hatte.
Mit Carina Lilge-Leutner verlieren wir nicht nur einen bewundernswerten Menschen, sondern eine große Sportlerin, die fast ein Vierteljahrhundert lang den Laufsport mitgeprägt hat und zu den erfolgreichsten Läuferinnen zählte, die Österreich je hervorgebracht hat.
Mit dem Laufsport begann sie im Herbst 1984 im Alter von 24 Jahren, davor hatte sie lediglich sporadisch etwas Tennis gespielt. Den ersten Wettkampf lief sie damals mit ihrem Bruder in Jogginghose und Tennisschuhen, die 10km knapp über 40 Minuten. Sie drehte ein paarmal pro Woche ihre Runden v.a. im nahen Türkenschanzpark, eher als lockeres Joggen über eine halbe Stunde.
Sie kam zu ihrem ersten Verein und meldete sich im Oktober 1985 für ihren ersten Marathon in Graz an. Dort waren gleichzeitig die Staatsmeisterschaften, ihr Verein meldete sie aber nicht für die Meisterschaften, weil die Funktionäre sicher waren, dass sie mit ihrer Vorbereitung ohnehin nicht die gesamte Distanz schaffen würde. Sie lief allerdings nach ca. 2:55 recht entspannt ins Ziel und wäre in der Staatsmeisterschaftswertung hinter der 15-jährigen Monika Frisch Zweite geworden.
Rudolf Zobl-Wessely, der im vergangenen Jahr bei einem Flugunfall ums Leben kam, stellte den Kontakt zu Josef Steiner her, der selbst 1980 in Moskau bei den Olympischen Spielen den Marathon bestritt. Josef übernahm die Trainingsbetreuung von Carina, die auch zu seinem eigens gegründeten Verein wechselte, wo Josef auch immer mehr ihr sportlicher Mentor wurde. Carinas nächster Marathon war in Wien im April 1986, wo Josef Rennleiter war und worauf sich Carina schon mit sehr viel Training vorbereitete. Sie lief - für viele wieder überraschend – 2:42:28 und belegte damit den dritten Gesamtrang.
Carina war nie für halbe Sachen. Also ging sie auch zu ihrem Chef, kündigte und wollte von da an als Profiläuferin leben. Sie bestritt gemeinsame Trainingslager in St. Moritz mit dem Schweizer Nationalteam und flog im Oktober 1986 zum Chicago-Marathon. Das Zimmer teilte sie damals mit Ilse Dippmann, der Organisatorin des späteren Frauenlaufes. Der 26.10.1986, also der Nationalfeiertag, blieb Carina immer als einer ihrer schönsten Tage ihres Lebens in Erinnerung. Mit 2:37:09 (nach der ersten Hälfte in ca. 1:16, ohne Pulsmesser oder irgendwelche Vorgaben) verbesserte sie den Österreichischen Marathonrekord von Henriette Fina nach zwei Jahren Training um rund zwei Minuten. Bereits zwei Wochen später startete sie bei der Straßenlauf-WM in Monaco über 15km (damals gab es noch keinen Halbmarathon). Mit dieser Leistung war sie zumindest in der damaligen Europaklasse angekommen und sie ging davon aus, dass es Schritt für Schritt entsprechend weiterginge.
Die Trainingsumfänge wurden weiter nach oben geschraubt, mit ihren 43kg (bei einer Größe von 164cm), waren die körperlichen Voraussetzungen für den Marathon optimal. Der starke Wind beim Wien-Marathon 1987 verhinderte schnelle Zeiten, aber trotzdem sollte es - neben dem Rekord von Chicago - ihr erfolgreichstes Rennen werden: als erste und bis Andrea Mayr (2009) einzige Österreicherin konnte sie den Wien-Marathon in diesem Jahr gewinnen. „Das war sicher der schönste Sieg meiner ganzen Karriere“, meinte Carina rückblickend. Das mit dem Sieg gewonnene Auto verkaufte sie und finanzierte damit die nächsten Trainingslager.
Durch die hohen und rasch gesteigerten Trainingsumfänge zeigten sich aber bald die ersten Verletzungsprobleme. Präventive Übungen oder Physiotherapie gab es damals kaum für Läufer, die Devise war eher: möglichst viel und hart trainieren, solange es die Schmerzen irgendwie zuließen. Die folgenden Jahre stabilisierte sich Carina leistungsmäßig zwar auf dem hohen Niveau, gewann neben dem ersten Frauenlauf (1988) auch zahlreiche österreichische Meistertitel, durch die zahlreichen verletzungsbedingten Unterbrechungen gab es aber kaum eine wirkliche sportliche Weiterentwicklung.
1988 übersiedelte Carina nach Kitzbühel und arbeitete dort für die damalige Nike-Generalvertretung. Mit Nike hatte sie auch praktisch von Beginn weg über ca. 25 Jahre ihren gleichbleibenden Ausrüstungspartner, auch das ist wohl einzigartig. Im September 1989 gewann sie bei den österreichischen Staatsmeisterschaften über 10.000m eine Medaille, fühlte sich aber irgendwie unwohl. Der Grund stellte sich erst später heraus: sie war schwanger. Im März 1990 kam Tochter Lisa-Maria Leutner mit einigen Komplikationen zur Welt, doch Carina nahm sehr rasch das Training wieder auf. Rund zwei Monate nach der Geburt von Lisa-Maria gewann sie im Mai bei den 10.000m Meisterschaften des Jahres 1990 schon wieder eine Medaille. Die sportliche Form näherte sich nun einem neuen Höhepunkt. Am 19.7.1990, also vier Monate nach der Geburt von Lisa-Maria, lief Carina in Dortmund die 10.000m in 33:38,85 - der schnellsten Zeit ihrer ganzen Karriere. Damals waren gleich drei Österreicherinnen (neben Carina auch Anni Müller (32:55) und Verena Lechner (33:59)) in der Lage, die 10.000m unter 34 Minuten zu laufen, das gab es bis heute nicht wieder.
Es folgte wieder eine langwierige Verletzung, der geplante Marathon im Herbst 1990 musste gestrichen werden, auch der erhoffte WM-Start 1991 kam nicht zustande. Der große sportliche Traum von der Qualifikation für Olympische Spiele im Marathon wurde Carina nie erfüllt, was auch an den damals tw. höheren Limits als heute lag, bzw. dass der Verband diese Limits immer so in die Höhe schraubte, dass sie gerade unerreichbar waren.
Carina engagierte sich immer leidenschaftlich gegen Doping in der Leichtathletik, was ihr im Verband und bei Mannschaftskolleginnen nicht nur Freunde brachte. Aber weder beim Training noch in diesem Bereich ging sie irgendwelche Kompromisse ein. Sie startete in weiterer Folge nicht nur immer wieder beim VCM (wo sie praktisch immer unter den Top 6 klassiert war), sondern auch bei den großen Marathonläufen in New York, London oder Berlin. Aufgrund von Verletzungsproblemen, die auch Operationen notwendig machten, war eine weitere Verbesserung der Zeiten kaum möglich.
Ende der 90er-Jahre wechselte sie deshalb zum Triathlon, die für den Marathon notwendigen Laufumfänge (in den besten Jahren trainierte sie zwischen 130 und 200km pro Woche) waren einfach nicht mehr möglich. Gleich im ersten Triathlonjahr 1999 (sie hatte davor 1985 auf der Donauinsel zuletzt einen Triathlon gemacht, wo sie 2. wurde) belegte sie den 5. Rang bei den Staatsmeisterschaften über die Olympische Distanz und wurde in diesem Jahr mit ihrer Leistung bei der „Trimania“ (= Vorgängerveranstaltung des Ironman Kärnten) jahresschnellste Österreicherin über die Langdistanz. Carina startete auch bei den Ironman-Bewerben in Roth, Lanzarote und Kärnten, dazu u.a. mehrere Halbdistanzen in den USA. Einmal nahm sie bei den österr. Bergzeitfahr-Meisterschaften teil und erreichte bei Schneeregen im Zillertal eine Top-10 Platzierung.